Jenny Haniver, créature des cabinets de curiosités-RELICS

Jenny Haniver, Kreatur aus den Kuriositätenkabinetten

Hinten in den Häfen, in den feuchten Ecken der Fischmärkte, in manchen vergessenen Buden an den Kais von Brügge, Lissabon oder Antwerpen, in den dunklen Winkeln alter Provinzmuseen oder, besser noch, hinter den knarrenden Vitrinen echter Kuriositätenkabinette findet man bisweilen seltsame Geschöpfe, auf halbem Wege zwischen Meerteufel und gotischer Wasserspeierfigur. Das sind die Jenny Haniver.
Weder ganz natürlich noch ganz künstlich wirken sie, als seien sie einem barocken Albtraum entkommen. Vom Esoterischen der Alchemisten bis zur zaghaften Wissenschaft der Naturforscher haben sie fasziniert, erschreckt und mehr als einmal getäuscht.

 

Jenny Haniver

Jenny Haniver auf relics.es

 

Eine Chimäre zwischen Meer und Mythos

Die Jenny Haniver sind „Objekte“, die aus Rochenkadavern (bisweilen anderen Knorpelfischen) gefertigt werden, kunstvoll getrocknet, geschnitten, geformt, neu modelliert und dann an der Sonne oder durch andere Verfahren gehärtet. Ihre endgültige Gestalt erinnert meist an humanoide Kreaturen, Meeresdämonen, skelettierte Drachen, verdammte Meerjungfrauen oder monströse Föten. Beim Betrachten verschwimmt der Blick. Ist es ein Tier? Ein Artefakt? Ein versteinertes Wesen? Ein Schrecken aus dem Abgrund?

Die ersten Zeugnisse von Jenny Haniver stammen aus dem 16. Jahrhundert, einer Zeit, in der sich die bekannte Welt Tag für Tag unter den Segeln der Karavellen erweiterte und die aus den Ozeanrändern heimgebrachten Kreaturen ebenso in der Vorstellung wie in den Truhen ihren Platz fanden. Die Häfen der Nordsee wie Antwerpen, Amsterdam oder Brügge waren die ersten Schauplätze ihres Auftretens. Dort, in den Hinterzimmern der Präparatoren, am Ende schmieriger Märkte, in Fischerhütten und zwielichtigen Herbergen, wurden die ersten Exemplare geformt — mal aus Spiel, mal aus List, mal aus aufrichtigem naturalistischem Staunen.

Ihre Beliebtheit erreichte im 17. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt, just als das gebildete Europa ins goldene Zeitalter der Kuriositätenkabinette eintrat, jener barocken Mikrokosmen, die das ganze Geheimnis der Schöpfung zu bergen suchten. Die Jenny Haniver fand in ihrer grotesken, ambigen Form ein ihrer Fremdheit perfekt angepasstes Gehäuse. Sie verkörperte zugleich die Angst vor der Leere (horror vacui), die Faszination für das Monströse und die für die Epoche typische Obsession, das Unfassbare zu klassifizieren.

 

jenny haniver

 

Es war eine Epoche des noch vom Wunder durchtränkten Wissens, in der die Grenzen zwischen der entstehenden Wissenschaft, der figurativen Kunst, okkulten Traditionen und eingestandenen Schwindeleien beunruhigend durchlässig waren. Ein und derselbe Gelehrte konnte ein Mineralogietraktat verfassen, Fehlbildungen studieren und die Wahrhaftigkeit einer in Formalin konservierten Meerjungfrau erörtern. In diesem trüben intellektuellen Klima wurde die Jenny Haniver zugleich Forschungsobjekt, anatomisches Theaterstück und übernatürliches Ikon.

In den überladenen Vitrinen dieser Kammern der Welt thronte sie oft zwischen noch missdeuteten Fossilien (etwa Ammoniten oder Ichthyosauriern, die man für versteinerte Schlangen hielt), exotischen Schädeln aus Afrika oder Amerika, Einhornhörnern (in Wahrheit sorgfältig polierte Narwalstoßzähne), Bezoarsteinen aus Rindermägen, Artefakten unbekannter oder vermuteter Kulturen und monströsen Föten in Alkoholgläsern, die ebenso faszinierten wie sie abstießen.

Doch die Jenny Haniver begnügte sich nicht damit, ein Objekt unter anderen zu sein. Sie widersetzte sich der Erklärung, selbst für die strengsten Naturforscher. Anders als Steine oder Artefakte schien sie beseelt, musterte den Besucher zuweilen mit eigentümlicher Starre. Manche hielten sie für einen Dämon, andere für eine Chimäre aus einem mittelalterlichen Bestiarium, wieder andere sahen in ihr einen handfesten Beweis dafür, dass die Tiefsee von noch unbekannten — oder verfluchten — Arten wimmele.

So war die Jenny Haniver in den Kabinetten der Kuriositäten mehr als ein Artefakt: Sie war eine spaltweit geöffnete Tür zum Unmöglichen. Gerade ihre Ambiguität — weder völlig natürlich noch gänzlich gemacht — machte sie zum perfekten Symbol der Barockzeit, gierig nach Wundern, Widersprüchen und Geheimnissen.

 

Jenny Haniver

Jenny Haniver auf relics.es

 

 

Der Ursprung des Namens: vom Englischen zum Kaigebabbel

Der geheimnisvolle Name Jenny Haniver entkommt nicht der Ambiguität, die das Wesen selbst umgibt. Er scheint, den plausibelsten Quellen nach, die Frucht einer allmählichen sprachlichen Verzerrung zu sein, geboren auf den Docks, in Tavernen und Fischhallen, wo Sprachen aneinanderprallen und Wörter so schnell entstehen wie sie vergessen werden. Die am häufigsten vertretene Erklärung ist die einer phonetischen Verballhornung von „Jeune d’Anvers“ — in ungefährem Englisch oder Cockney-Slang würde „Jenny Haniver“ so zum verzerrten Echo von „young of Antwerp“ oder „Anversienne“, in Anspielung auf die zahlreichen in dieser Hafenstadt am Schnittpunkt nordischer, iberischer und kolonialer Welten verkauften Exemplare.

Weitere Hypothesen sprechen von einer Verkürzung von „Geneva and Antwerp“, die zwei Hochburgen des Seehandels vereint, oder von einem generischen weiblichen Spitznamen — Jenny —, dem englischen Pendant zu unseren „Nana“ oder „Mimi“, das man allem Seltsamen oder Exotischen mit vage anthropomorphen Zügen anhängte. In diesem Kontext könnte „Jenny Haniver“ sehr wohl zunächst ein spöttischer Beiname gewesen sein, den Seeleute einem Wesen gaben, das aus der Ferne an eine verdrehte, missgestaltete oder verdammte Frau erinnerte.

Doch wo die Etymologie verschwimmt, klärt sich die Symbolik. Die Unschärfe des Namens selbst ist bedeutungstragend: als weigere sich dieses Geschöpf, klar benannt zu werden, als gehöre es zu jener Kategorie von Dingen, die die Sprache nur halb erfasst. Dass seine Benennung im rauen Mund der Matrosen entstand, zwischen Flüchen, derbem Gelächter und Aberglauben der See, trägt dazu bei, es mit einem dichten sprachlichen Schleier zu verhüllen, beinahe mythisch.

 

jenny haniver

Museum of the Weird, Texas

 

Nicht zufällig klingt ihr Name zugleich vertraut und verstörend. „Jenny“, ein gebräuchlicher Frauenname, ruft etwas Menschliches, Nahes, fast Rührendes hervor; „Haniver“ hingegen, rau, trocken, fast germanisch oder flämisch, deutet auf Andersheit, Anderswo, lautliche Zerrung. Ein Name, der zwischen Zärtlichkeit und Fremdheit schwankt, zwischen Hafen und Abgrund. Man könnte fast meinen, es sei der Name einer verbannten Meerjungfrau, eines Wesens, das die Menschen an Land gebracht haben, das aus Rache aber sogar seinen eigenen Namen verdorben hat.

Diese Widerständigkeit gegen die Einordnung, bereits in der Etymologie spürbar, ist im Übrigen emblematisch für die Jenny Haniver selbst. Sie passt in keine klare Taxonomie. Weder ganz natürlich noch ganz künstlich. Weder gänzlich menschlich noch streng tierisch. Und ihr Name entzieht sich wie ihre Form den üblichen Rasterungen des Wissens. Sie entwischt dem Vokabular, wie sie der Wissenschaft entwischt — wie die anderen Wunder der Kuriositätenkabinette, wo das Unverständliche ein Wertargument und das Unbestimmte das Siegel des Faszinierenden ist.

Die Jenny Haniver: zwischen Schwindel und makabrer Kunst

Auf den ersten Blick ließe es sich leicht — beinahe beruhigend — sagen, die Jenny Haniver gehörten zu den maritimen Schwindeln, zu jenen zahlreichen fragwürdigen Artefakten, die in Handelshäfen und auf Jahrmärkten florierten: Meerjungfrauen, genäht aus Affenkopf und Fischschwanz, Kitschdrachen, gefälschte Föten, Einhörner aus Walroß-Elfenbein. Ihr seltsames Erscheinungsbild, ihre hybride Zusammensetzung, die handwerkliche Herstellungsweise und ihre volkstümliche Verbreitung sprechen scheinbar für Betrug. In der Tat ließen sich viele Kuriosophilen — ob Adlige, Kleriker oder bürgerliche Sammler — von diesen ausgedörrten Chimären verführen (oder betören). Sie wurden als authentische Reliquien fabelhafter Wesen verkauft, als einzigartige Stücke aus dem Abgrund oder wundersame Trophäen einer noch unbekannten Welt.

Doch die Jenny Haniver auf bloße Schwindel zu reduzieren, wäre ein Perspektivfehler. Man vergäße, dass Europa vom 16. bis 18. Jahrhundert in einem geistigen und ästhetischen Klima lebte, in dem Falsches, Zweifelhaftes, Magisches, Natürliches, Wissenschaftliches und Groteskes nicht einander ausschlossen, sondern oft ineinandergriffen. Was wir heute „Betrug“ nennen, galt damals zuweilen als Theatralisierung der Wirklichkeit oder als symbolischer Versuch, das Chaos des Lebendigen zu ordnen.

 

jenny haniver

 

In diesem Sinne sind die Jenny Haniver nicht nur betrügerische Objekte: Sie sind materielle Manifestationen einer barocken Imagination, freie Deutungen natürlicher Formen bis zum Äußersten getrieben. Sie stehen in jener Tradition, in der der Mensch angesichts der Unermesslichkeit des Meeres und seiner unbekannten Geschöpfe die Monster, die er nicht zu fangen vermag, selbst gestaltet — um dem Geheimnis Gestalt zu geben oder der Furcht.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass Wissen sich damals nicht vom Staunen trennte, noch Wahrheit vom Schein. Die Welt war ein großer chiffrierter Codex, in dem jede Muschel, jeder Knochen, jeder Fehlfötus, jedes rätselhafte Fossil einen verschlüsselten Buchstaben bildete. Der Gelehrte ebenso wie Dichter oder Theologe war ein Zeichenleser. Und in dieser Lektüre der Welt wirkt die Jenny Haniver wie ein Ideogramm des Monströsen, eine Kalligrafie des Unsichtbaren.

Durch ihre vage menschliche Gestalt — eingetrocknete Flügel, geschrumpfter Kopf, zurückgezogener Rumpf — verweist sie auf die dämonischen Figuren der mittelalterlichen Ränder, jene halb Mensch, halb Tier gezeichneten Drachen der Apokalypsehandschriften. Mit ihrer knorpeligen Textur und dem leeren Blick erinnert sie an die Höllenkreaturen alchemistischer Träume oder an Meereswesen, gezeichnet von Kartographen, die von Monstern gehört, aber nie eines gesehen hatten. Sie ruft eine ganze Ikonographie des schauerlichen Wunderbaren auf, zwischen Dantes Sirenen und den Visionen Hieronymus Boschs.

So wird die Jenny Haniver zum Hieroglyph des Abgrunds: nicht um ein reales Wesen getreu nachzubilden, sondern um zu evozieren, zu symbolisieren, zu provozieren. Sie dient als Projektionsfläche: Der Blick des Betrachters sieht, was er sehen will — Dämon, Meerjungfrau, Fötus, Drache, verdammte Seele, Albtraummonster oder Rückstand der Ursünde.

So überschreitet sie den Status des Schwindels: Sie wird zur makabren Kunst, zum Gedicht aus versteinertem Fleisch, zum ambigen Totem einer Welt wankender Gewissheiten. Sie lehrt keine Zoologie, sondern Schwindel — jenes eigentümliche Gefühl des Zweifels zwischen Natur und Übernatur, zwischen Tier und Mensch, zwischen Wahr und Erfunden.

Gerade in den Kuriositätenkabinetten finden diese Objekte ihre vollste symbolische Funktion. Dort, umstellt von Gebeinen, unwahrscheinlichen Muscheln, sonderbaren Gewächsen und Miniaturautomaten, werden die Jenny Haniver zu Spiegeln der kosmischen Unordnung, zu Figuren des gebändigten Chaos, die man in eine Vitrine setzt, wie man ein Fieber in eine Phiole sperrt.

Nein, die Jenny Haniver ist kein bloßes Falsifikat. Sie ist weit mehr: ein Exvoto des Zweifels, ein Talisman der Ungewissheit, eine groteske Antwort auf den Schrecken des Unbekannten.

 

jenny haniver

 

Ein Ehrenplatz in den Kuriositätenkabinetten

Der Erfolg der Jenny Haniver in den europäischen Kuriositätenkabinetten ist weder Zufall noch bloße Lust am Grotesken. Er gründet in einer ästhetischen, symbolischen und ontologischen Logik, die dem Geist von Renaissance und Barock eigen ist, wo Welterkenntnis nicht durch kühle, segmentierte Analyse, sondern durch die inbrünstige Sammlung von Wundern geschah. Diese Kabinette — fürstlich, kirchlich oder bürgerlich — waren wahre Theater der Welt, Verdichtungen des Kosmos, in denen der Mensch Ordnung oder Unordnung der Schöpfung im geschlossenen Raum nachzuzeichnen suchte.

Auf ihrem Höhepunkt im 17. Jahrhundert vereinten die Kuriositätenkabinette an einem Ort die mirabilia (außergewöhnliche Dinge), die naturalia (Erzeugnisse der Natur), die artificialia (vom Menschen Geschaffenes oder Verändertes), die scientifica (Instrumente der Beobachtung) und die exotica (Aus den Kolonien oder fernen Ländern mitgebrachte Artefakte). Die Jenny Haniver, weder ganz natürlich noch ganz künstlich, fügte sich mit verblüffender Leichtigkeit in mehrere dieser Kategorien zugleich.

Vor allem verkörperten sie eine eigentümliche Form umgelenkter naturalia: Produkte der Natur, doch so verändert, dass die latente Fremdheit des Lebendigen hervortritt. Damit waren sie nicht nur biologische Kuriosa, sondern Denkobjekte. Wie gotische Reliquiare, die den Knochen vergolden, verwandeln Jenny Haniver eine Kadaverhülle in ein Rätsel, eine Leiche in eine chiffrierte Botschaft.

In einer Vitrine, zwischen einer indianischen Mumie, einem zweiköpfigen Fötus in Weingeist, einem Heiligenarm im Schaugefäß, einem Himmelsglobus und einem gravierten Straußenei, zog die Jenny Haniver unvermeidlich den Blick des Besuchers auf sich. Ihre halbmenschliche Form, die verschrumpelten Flügel, das Maul zu einer Fratze der Verdammnis verzogen, weckte ebenso Faszination wie Unbehagen. Man betrachtete sie lange, unsicher, was man sah. War es ein Monster, ein gefallener Engel, des Teufels Fötus? Wurde es so geboren oder von einer verderbten Menschenhand geformt?

Gerade diese Irritation der Wahrnehmung war ihre Kraft. Anders als eine Muschel oder ein Edelstein stellte die Jenny Haniver die Wissenskategorien in Frage. Sie fragte: Was ist Leben? Wo endet das Natürliche? Wer hat das Recht zu benennen? Sie verschob den Betrachter von bloßer Betrachtung zur Verwirrung. Sie desorientierte Gelehrte wie Ungelehrte — und war darum ein hoch geschätztes Stück in der symbolischen Ökonomie der wunderlichen Sammlungen.

Doch die Jenny Haniver erschütterte nicht nur zoologische Gewissheiten: Sie rief auch rituelle Emotionen hervor, religiöse wie dämonologische Echos. Für manche war sie ein Talisman gegen finstere Kräfte, ein Meereswesen, gefangen, fixiert und durch Salz und Licht neutralisiert. Für andere war sie die tangible Manifestation des Bösen, die Spur eines verbotenen Lebens, eines Pakts mit dem Abgrund.

So berichtet man von mehreren Exorzismusaktionen, etwa in Teilen der Bretagne, Siziliens oder Böhmens, wo man auf einem Dachboden eine Jenny Haniver gefunden habe, wie eine getrocknete Fledermaus aufgehängt, verdächtigt, Krankheiten, Unglück oder gar Besessenheit verursacht zu haben. Versteckt habe sie ein Fischer, ein Zauberer oder eine Heilerin als Reliquiar eines gefangenen Geistes.

Man weiß auch, dass fahrende Prediger sie zuweilen in Predigten als Beweis für Gottes Strafe zeigten: „Seht, was Wollust, Verderbnis, die Missachtung der Naturgesetze hervorbringt.“ Andernorts präsentierten Scharlatane sie als Meerjungfrauen- oder Drachenfeten, verkauft als magische Arzneien oder alchemistische Ingredienzen. Manche Alchemisten behaupteten, eine Jenny Haniver könne, in eine Lösung aus Quecksilber und Salz getaucht, den Geist des Meeres anziehen oder verborgene Geheimnisse offenbaren.

So ging ihre Funktion im Kuriositätenkabinett weit über bloße Zier hinaus. Sie war Katalysator von Erzählungen, Trägerin von Mythen, Konvergenzpunkt zwischen Naturwissenschaft und okkulten Berichten. In jenem Ort, wo Meteoritenfragmente neben Riesenzähnen oder Alchemistenhandschriften bewahrt wurden, stiftete sie Verbindung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Meer und Geist, zwischen Körper und Symbol.

Kurz: Die Jenny Haniver war kein in der Vitrine erstarrtes Objekt. Sie war ein stummes Ritual, ein verkörpertes Rätsel, eine Reliquie ohne Religion. Deshalb bleibt sie auch heute ein emblematisches Stück eines jeden Kuriositätenkabinetts von Rang.

 

jenny haniver

 

Kryptid oder Artefakt? Eine unscharfe Grenze

Einer der verstörendsten — und faszinierendsten — Aspekte der Jenny Haniver liegt in ihrem schwer zu fassenden ontologischen Status. Sind sie natürliche Wesen, von Menschenhand verändert? Künstlerische Artefakte? Seemannsspäße? Oder gar echte kryptozoologische Exemplare, dem Volksglauben entstiegen, um in der getrockneten Haut eines unbekannten Fisches Gestalt anzunehmen? Diese Ungewissheit, diese bewusst gepflegte Unschärfe zwischen Reellem und Gemachtem bildet das pulsierende Herz ihrer Faszination.

In der modernen Taxonomie ist ein Kryptid ein Wesen, dessen Existenz vermutet, aber wissenschaftlich nicht belegt ist: das Ungeheuer von Loch Ness, der Yeti, der Chupacabra oder der Mokélé-Mbembé. Sie entstehen an den Rändern des Wissens, in Volkserzählungen, in mündlichen Traditionen. Die Jenny Haniver jedoch existieren physisch sehr wohl. Sie sind greifbar, sichtbar, handelbar. Dieses Paradox macht sie zu invertierten Kryptiden: nicht zu Wesen, die man verzweifelt aufzuspüren sucht, sondern zu bereits vorhandenen Formen, deren Geburt oder Herstellung unklar ist.

In manchen Weltgegenden wird diese Ambiguität nicht aufgehoben — im Gegenteil, sie wird aktiv gepflegt. Im Golf von Mexiko etwa sind die Jenny Haniver als „Meerteufel“ (sea devils oder diablillos marinos) bekannt. Viele Fischer glauben dort noch ernsthaft an sie. Es gibt Berichte, wonach der Fund eines solchen Exemplars im Netz auf See Panik auslöste: Einige weigerten sich weiterzufischen, andere warfen es unter Gebeten oder Opfern zurück. Man erzählt gar, manche Boote seien aufgegeben worden, nachdem eine Jenny Haniver an Bord gefunden wurde, so unheilvoll galt ihre Präsenz.

In Japan, dessen maritimer Volksglaube unvergleichlich reich ist, wurden Jenny Haniver bisweilen als yōkai verstanden, jene polymorphen, oft schelmischen Geister. Manche sehen in ihnen mumifizierte ningyo — die berühmten japanischen „Meerjungfrauen“, halb Frau, halb Fisch, die je nach Umgang ewigen Segen oder völligen Ruin bringen sollen. In manchen Familien wurden geheimnisvolle getrocknete Kreaturen als Reliquien verehrt und von Generation zu Generation in Kästchen verwahrt, mit kabbalistischen Inschriften bedeckt.

Auch in der alten europäischen Welt galten die Jenny Haniver lange als reale Fragmente der unsichtbaren Welt. Exemplare wurden als Drachenbabys in deutschen Wunderkammern gezeigt, als gefangene Meerjungfrauen in privaten Museen des italienischen Adels oder als versteinerte Dämonen in ländlichen Kirchen, wo sie dazu dienten, die Gläubigen zu ermahnen vor den Gefahren der Sünde. Man sprach ihnen exotische Herkunft zu: Abessinien, Amazonien, Grönland oder gar die Tiefen des Styx.

Der Naturforscher Ulisse Aldrovandi dokumentiert in seinen Traktaten des 16. Jahrhunderts Wesen, die den heutigen Jenny Haniver äußerst ähnlich sind. Er zeichnet sie, beschreibt sie, versucht ihre Natur zu verstehen. Doch selbst er — Mann der Wissenschaft, besessener Klassifikator — entscheidet nie endgültig. Er lässt den Zweifel stehen. Er stellt fest, beobachtet, benennt … doch verwirft nicht. Gerade dieser Zweifel verleiht den Objekten ihre symbolische und intellektuelle Kraft.

Denn letztlich liegt hier der giftige Reiz — und die verfeinerte Furcht — der Jenny Haniver: Sie besitzen gerade genug Struktur, Symmetrie und Ähnlichkeit mit dem Lebendigen, um den Betrachter schwanken zu lassen. Ist es ein missgebildeter Fötus? Ein versteinertes Dämonlein? Ein besessener Fisch? Oder schlicht ein Rochen, geschickt zurechtgeschnitten? Man pendelt fortwährend zwischen staunender Naivität und entsetzter Skepsis.

Im Kuriositätenkabinett ist diese Ungewissheit keine Schwäche, sondern ein grundlegender Vorzug. Denn solche Orte wollen keine Antworten geben, sondern Fragen provozieren, Kategorien erschüttern, die Natur der Welt befragen. Eine Jenny Haniver ist dort nicht bloß ein Anblick: Sie ist eine materialisierte Frage, eine Sphinx ohne ausdrückliches Rätsel, deren bloße Präsenz unsere Klassifikationsinstinkte unterläuft.

So entzieht sich die Jenny Haniver der klassischen Dichotomie von Wahr und Falsch. Sie schwebt zwischen den Welten, wie die Meereswesen, an die sie erinnert. Sie ist zugleich mythologisches Kryptid und hergestelltes Objekt, Werkstattartefakt und Zeugin einer anderen Naturordnung, handwerkliche Täuschung und poetische Offenbarung. Sie ist das missgestaltete Kind von Traum und Materie.

Und im Kontext des Kuriositätenkabinetts, jenes Raums, in dem die Grenzen zwischen Natur, Kunstgriff und Wunder bewusst verwischt werden, wiegt der von ihr erzeugte Zweifel mehr als jede Gewissheit. Denn in diesem gelehrten Theater des Bizarren glänzt das Unentscheidbare, fasziniert die Unschärfe, stellt das Monster Fragen. Insofern ist die Jenny Haniver vielleicht das perfekte Kryptid: nicht das, nach dem man Wälder oder Seen absucht, sondern das, das schon vor den Augen liegt — ohne dass man je ganz zu glauben wagt.

Alchemie, Hexerei und die Jenny Haniver

Über ihre dekorative Funktion hinaus besitzen die Jenny Haniver auch eine esoterische Dimension. In gewissen Grimoiren oder okkulten Traditionen galten sie als Schutztalismane, Divinationsobjekte oder gar als dämonische Reliquien.

Einige Alchemisten meinten, sie könnten als Gefäße für Elementargeister dienen, insbesondere für die des Wassers. Dass sie aus dem Rochen gefertigt werden, einem wenig geschätzten Speisefisch mit oft seltsamer Form, verstärkte ihren okkulten Ruf.

Andere Überlieferungen schreiben ihnen Verfluchungskräfte zu oder rechnen sie jenen Objekten zu, die Hexen im Haus verbargen, um den bösen Blick zu werfen. Ihre gequälten Formen, ihr starrer Blick, die ledernen Flügel — alles erinnert an infernalische Bildwelten.

Die Jenny Haniver heute: zwischen Folklore und Gegenwartskunst

Auch wenn die Kuriositätenkabinette mit dem Aufkommen moderner naturwissenschaftlicher Museen zurückgingen, hat das erneute Interesse am Seltsamen, Barocken und Kryptiden diesen Kreaturen neues Leben eingehaucht.

Manche zeitgenössische Künstler (wie Thomas Grunfeld, Mark Dion oder in Frankreich die Schöpfer surrealer Präparate) fertigen eigene Versionen der Jenny Haniver, teils mit anderen Materialien, teils aus synthetischen Resten. Sie setzen sie in Installationen, in denen sich Wissenschaft mit Horror, Ironie und Gothik mischt.

Avantgardistische Präparatoren, an der Kreuzung von Kuriositätenkabinett und morbider Kunst, führen jene eigentümliche Tradition fort, Natur zu formen, um innere Visionen sichtbar zu machen.

Jenny Haniver und Popkultur: von Lovecraft bis Pokémon

Es ist kein Zufall, dass das Design vieler Fabelwesen — in Videospielen, Horrorfilmen, fantastischer Literatur — den knotigen Linien und schlaffen Gliedern der Jenny Haniver ähnelt. Pokémon wie Frison, Relicanth oder Dhelmise erinnern an den Geist dieser untoten Geschöpfe aus den Tiefen.

Im Universum von H. P. Lovecraft, wo Meereswesen oft tentakelhaft, formlos, halbmenschlich und mit umgekehrter religiöser Symbolik ausgestattet sind, lässt sich leicht eine ästhetische Verwandtschaft zur Jenny Haniver erkennen.

Mehr noch: Manche Pseudo-Dokumentationen der Kryptozoologie nutzten Bilder von Jenny Haniver, um „aufgefundene Meerjungfrauen“ zu illustrieren — spielend mit ihrer halb glaubwürdigen, halb monströsen Erscheinung.

Eine Jenny Haniver sammeln: Gebrauchsanleitung

Weit davon entfernt, bloß Museumsartefakte zu sein, werden Jenny Haniver auch heute gesammelt. Manche spezialisierte Händler — oft dieselben, die menschliche Schädel, gerahmte Insekten oder alte medizinische Objekte verkaufen — bieten sie an.

Doch Vorsicht: Echte Jenny Haniver müssen sorgfältig identifiziert werden. Ein gutes Stück ist gut durchgetrocknet, ohne Schimmelspuren, mit beunruhigender Symmetrie und vage humanoider Form. Am begehrtesten sind jene, die klar an einen kleinen Dämon, eine Wasserspeierfigur oder ein embryonales Wesen erinnern.

Ihr Preis variiert nach Qualität, Seltenheit und Herkunft. Doch am Ende stiftet nicht das Objekt an sich den Wert, sondern der Schauer, den es auslöst — das Gefühl, eine Tür zum Unerklärlichen zu öffnen.

Schluss: Warum faszinieren die Jenny Haniver noch immer?

In einer Welt, in der alles analysiert, klassifiziert, erklärt wird, stehen die Jenny Haniver für eine Grauzone, einen poetischen Zwischenraum zwischen Wirklichem und Mythischem. Sie fangen etwas Wesentliches des menschlichen Geistes ein: den Wunsch, an ein Jenseits des Natürlichen, an eine verborgene Ordnung, an ein unaufhebbares Geheimnis zu glauben.

Sie spiegeln eine Welt, in der man noch denken konnte, dass unter den Rümpfen Meerjungfrauen schwammen, dass in Meeresmulden Drachen schlummerten und dass Fische lügen konnten.

Für Liebhaber von Kuriositätenkabinetten sind sie ein symbolischer Schlüssel. Nicht, weil sie eine Wahrheit enthüllen, sondern weil sie eine permanente Frage stellen: Was trennt den Kunstgriff vom Wirklichen? Und was, wenn das Fremde im Grunde die wahre Essenz der Natur wäre?

Zurück zum Blog

Hinterlasse einen Kommentar

Bitte beachte, dass Kommentare vor der Veröffentlichung freigegeben werden müssen.