Unter den religiösen Gestalten der gegenwärtigen christlichen Welt des Westens haben nur wenige eine so große Faszination ausgelöst wie Bernadette Soubirous, die Seherin von Lourdes, die Ordensfrau in Nevers wurde. Ihr Ruhm beruht nicht nur auf den achtzehn Marienerscheinungen, die eine bescheidene Pyrenäengrotte in einen der größten Wallfahrtsorte der katholischen Welt verwandelt haben. Er stammt auch – und vielleicht vor allem – aus dem erstaunlich gut erhaltenen Zustand ihres Körpers, der im Rahmen des Heiligsprechungsprozesses dreimal exhumiert wurde. Als „unverwest“ dargestellt und seit 1925 in einem eigens dafür angefertigten Kristallsarg aufgebahrt, ist sie zu einer Ikone sichtbarer Heiligkeit geworden: ein erstarrtes Antlitz von großer Schönheit, zarte Hände und ein feines Gesicht, das von Millionen von Pilgern als greifbares Zeichen göttlicher Gunst betrachtet wird.
Dennoch ist die wirkliche Geschichte differenzierter. Der Körper Bernadettes, weit davon entfernt, auf wundersame Weise unversehrt zu sein, wie es manche frommen Berichte behauptet haben, hat einen langen Prozess natürlicher Verfallserscheinungen, unglücklicher menschlicher Eingriffe und anschließender Restaurierungen durchlaufen, die das Bild geformt haben, das wir heute kennen. Weit davon entfernt, ihren geistlichen Wert zu schmälern, vertieft diese Wirklichkeit im Gegenteil das Geheimnis dieser jungen, kranken und armen Frau, die zugleich Zeugin des Unsichtbaren und Objekt weltweiter Verehrung geworden ist.
Der vorliegende Artikel bietet eine ausführliche – biografische, historische und kritische – Untersuchung dieser „nicht ganz unverweslichen“ heiligen Bernadette, deren Schicksal Wissenschaft, Glauben und kollektive Vorstellungskraft aufs Engste miteinander verbindet.
Eine bescheidene Kindheit im Frankreich des 19. Jahrhunderts
Bernadette Soubirous wird am 7. Januar 1844 in Lourdes in eine äußerst arme Familie hineingeboren. Ihre Eltern, François und Louise, leben von Gelegenheitsarbeiten und erleben Jahre tiefster Not. Die kleine Bernadette, die älteste Tochter, wächst in einem Klima schlichter und tief verwurzelter Frömmigkeit auf, wie es für die bescheidenen ländlichen Haushalte des damaligen Frankreich typisch ist. Sie ist häufig krank – sie wird ihr ganzes Leben lang an Asthma, an einer Anfälligkeit der Lunge und später an Tuberkulose leiden – und bleibt bis zur Jugend nahezu Analphabetin, was zu ihrem Bild kindlicher Unbefangenheit beiträgt.
Das Lourdes des Zweiten Kaiserreichs ist ein gewöhnlicher Marktflecken. Niemand kann sich vorstellen, dass das Leben einer fragilen, ungebildeten Jugendlichen nicht nur das Schicksal der Stadt, sondern das von Millionen Pilgern in aller Welt verändern wird.
1858: Die Erscheinungen von Lourdes, Geburt einer Ikone
Am 11. Februar 1858, als sie in der Nähe der Grotte von Massabielle Totholz sammelt, behauptet Bernadette, eine junge Frau von strahlender Schönheit gesehen zu haben. Diese „Dame“ erscheint achtzehnmal zwischen Februar und Juli, spricht sanft zu ihr, fordert sie auf, für die Sünder zu beten, von einer noch unsichtbaren Quelle zu trinken und dort eine Kapelle zu errichten.
Die geheimnisvolle Gestalt stellt sich schließlich als „die Unbefleckte Empfängnis“ vor – ein theologischer Ausdruck, den Bernadette aus eigener Kraft nicht kennen konnte. Das Ereignis beeindruckt die Beobachter. Das Mädchen, schlicht, kränklich und wenig gebildet, zeigt ein kohärentes, bescheidenes Verhalten, frei von jedem gesuchten Pathos. Ihre jugendliche Schönheit, die in den Zeugenaussagen häufig erwähnt wird, berührt ebenfalls die öffentliche Meinung.
Schon ab 1858 führen die Besuche an der Quelle zu Heilungen. Einige von ihnen, nach Auffassung der Ärzte jener Zeit unerklärlich, tragen zur Ausbreitung des Rufes von Lourdes bei, das sich nach und nach zu einem bedeutenden Wallfahrtsort entwickelt.
Das Ordensleben in Nevers: Demut und Leiden
Fern davon, Ehren zu suchen, flieht Bernadette vor der Berühmtheit. Im Jahr 1866 tritt sie den Schwestern der Charité und der Christlichen Unterweisung von Nevers bei, wo sie ihre Gelübde ablegt. Dort verbringt sie dreizehn Jahre, die geprägt sind von:
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einem beständigen Wunsch nach Zurücknahme und Verborgenheit,
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freudigem Gehorsam trotz körperlicher Leiden,
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einem diskreten Humor, der von ihren Mitschwestern oft bemerkt wird,
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einer fortschreitenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes.
Mit 35 Jahren stirbt sie am 16. April 1879, besiegt von Lungen- und Knochentuberkulose. Ihre letzten Worte – „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für mich arme Sünderin“ – bezeugen einen einfachen und tiefen Glauben.
Exhumierungen: Von der medizinischen Beobachtung zur Legende der Unverweslichkeit
Im Rahmen ihres Seligsprechungsprozesses wird ihr Körper dreimal exhumiert: in den Jahren 1909, 1919 und schließlich 1925. Jede Exhumierung liefert wesentliche Informationen zum tatsächlichen Zustand des Leichnams.
Erste Exhumierung (1909): Ein weitgehend unversehrter Körper
Dreißig Jahre nach ihrem Tod wird ihr Sarg geöffnet. Überraschung: Der Körper ist noch relativ gut erhalten. Die Haut, obwohl ausgetrocknet, ist weitgehend vorhanden; die Gliedmaßen sind nicht in sich zusammengefallen; das Gesicht ist erkennbar. Die Ärzte sprechen von einem „beeindruckenden“ Zustand. Man stellt weder starken Verwesungsgeruch noch fortgeschrittene Fäulnis fest. Die Legende der Unverweslichkeit nimmt damit Gestalt an.
Doch der Körper wird von den Ordensfrauen, aus Unkenntnis moderner Konservierungsregeln, gewaschen und sogar leicht abgebürstet. Dieser Eingriff verändert ungewollt die Haut und das Gewebe.
Zweite Exhumierung (1919): Auftreten beunruhigender Veränderungen
Zehn Jahre später zeigt die zweite Exhumierung einen „praktisch mumifizierten“ Körper. Im ärztlichen Bericht ist die Rede von:
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Schimmelbefall am Körper,
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weißlichen Belägen,
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Ablagerungen mineralischer Salze (wahrscheinlich Calcium),
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einem teilweisen Verlust der Haut an bestimmten Stellen.
Der Arzt kommt zu dem Schluss:
„Der Körper ist praktisch mumifiziert.“
Der Begriff der „Unverweslichkeit“ verlangt in der katholischen Tradition keine vollkommen makellose Erhaltung, sondern das Ausbleiben einer Verwesung mit starker Geruchsbildung oder Auflösung der Gewebe sowie eine weitgehende Bewahrung der äußeren Züge. Die Kommission schätzt, dass der Fall Bernadette weiterhin mit dieser Definition vereinbar ist.
Dritte Exhumierung (1925): Eine verstärkte Schädigung
Sechs Jahre später zeigt die dritte und letzte Exhumierung, dass der Körper weiter gelitten hat. Neue Schäden treten im Gesicht, an den Händen und an der Haut auf. Einige Rippen werden entnommen, um sie nach Rom als Reliquien zu schicken.
Man erkennt jedoch, dass das Erscheinungsbild des Körpers – geschwärztes Gesicht, zusammengezogene Haut – die Pilger erschrecken oder traurig stimmen könnte. Die Kirche, um die Würde zu wahren, beschließt daher eine respektvolle ästhetische Restaurierung.
Die „Wachmaske“: Wiedergeburt einer erstarrten Schönheit
Um Bernadette ein friedvolles Gesicht zu geben, wendet man sich an Pierre Imans, einen berühmten Pariser Schöpfer von Schaufensterfiguren und Spezialisten für realistische Wachsarbeiten. Er fertigt:
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eine Wachmaske, die das Gesicht bedeckt,
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ein Paar Wachshände,
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eine diskrete Herrichtung der Präsentation des Körpers.
Das Ergebnis ist das, was man noch heute sieht: eine junge Frau mit zartem Gesicht, die wirkt, als schlafe sie friedlich. Weit davon entfernt, eine Täuschung zu sein, gehört diese Praxis zur christlichen Begräbnistradition: Sie dient dazu, den Respekt vor den aufgebahrten Leibern zu wahren und gleichzeitig Elemente zu vermeiden, die schockieren könnten.
Bernadette ist daher kein Beispiel einer vollkommenen Unverweslichkeit im spektakulären Sinn des Wortes. Ihr Körper hat natürliche Verfallsprozesse durchlaufen, die durch bestimmte Eingriffe noch verstärkt wurden. Dennoch ist er außergewöhnlich gut erhalten – genug, um eine tiefgehende Reflexion über das Verhältnis zwischen Heiligkeit, Materie und Erinnerung anzuregen.
Das rätselhafte Schicksal eines Leichnams: Wissenschaft und Theologie
Der Fall Bernadette wirft eine wesentliche Frage auf: Wie lässt sich die relative Erhaltung ihres Körpers erklären?
Mehrere materielle Faktoren können angeführt werden:
Die Bedingungen der Bestattung
Sie wurde in einer kühlen, stabilen Umgebung in einem versiegelten Sarg beigesetzt.
Der Gesundheitszustand
Die extreme Abmagerung und die tuberkulösen Veränderungen könnten bestimmte Verwesungsprozesse verlangsamt haben.
Die Wirkung mineralischer Salze
Die 1919 beobachteten weißlichen Beläge deuten auf einen teilweisen Mineralisationsprozess hin, der einer natürlichen Mumifizierung ähnlich ist.
Menschliche Eingriffe
Die Waschungen und Bürstungen haben leider das fragile Gleichgewicht mancher Hautschichten zerstört.
In ihrer Gesamtheit betrachtet ist die Erscheinung des Körpers außerordentlich beeindruckend, aber nicht unerklärlich.
Aus theologischer Sicht ist Unverweslichkeit kein „Wunder an sich“; sie wird eher als Zeichen verstanden, nicht als „Beweis“. Die Kirche hat mit Bedacht niemals behauptet, der Körper sei zu 100 % wundersam erhalten geblieben.
Die Kapelle von Nevers: Ort des Gedenkens und der Stille
Seit 1925 ruht der Körper in einem speziell angefertigten Kristallsarg, ausgestellt in der Kapelle Saint-Gildard der Schwestern der Charité in Nevers. Der Ort ist nach wie vor eine aktive Kapelle: stille Gebete, tägliche Liturgie, Sammlung.
Die Besucher werden eingeladen:
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die heilige Atmosphäre zu respektieren,
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sich bewusst zu machen, dass der Körper in erster Linie der einer bescheidenen Frau ist,
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zu verstehen, dass die Ausstellung dem Gedenken dient und nicht einem morbiden Interesse.
Man schätzt, dass jedes Jahr mehrere hunderttausend Menschen diesen Ort besuchen – in einer bemerkenswerten Stille für eine so stark frequentierte Stätte.
Lourdes heute: Ein lebendiges Erbe
Zur gleichen Zeit empfängt Lourdes weiterhin 4 bis 6 Millionen Pilger pro Jahr. Zahlreiche Heilungen, untersucht vom Bureau des Constatations Médicales, werden nach wie vor gemeldet, auch wenn nur einige wenige nach gründlicher Prüfung als „wunderbar“ anerkannt werden.
Der Wallfahrtsort bleibt ein Symbol für:
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Mitgefühl mit den Kranken,
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Hoffnung inmitten des Leidens,
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Solidarität der Pilger,
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Dialog zwischen Wissenschaft und Glauben.
Bernadette, die niemals Ehren gesucht hat, „arbeitet“ so weiterhin im Verborgenen.
Eine Heiligkeit auf menschlicher Höhe
Was an der Gestalt Bernadettes am meisten fasziniert, ist weniger die Frage ihres Körpers als vielmehr ihre außergewöhnliche menschliche Einfachheit. Sie hat niemals vorgegeben, etwas anderes zu sein als das, was sie war: ein armes, zerbrechliches Mädchen, Zeugin eines Geheimnisses, das sie überstieg.
Was an ihrer Spiritualität besonders auffällt:
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ihre radikale Demut,
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ihr feiner Humor,
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ihre Weigerung, sich verehren zu lassen,
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ihr Wunsch, in Vergessenheit zu geraten,
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ihr Sinn für Wahrheit (sie lehnte jede Ausschmückung ihrer Visionen ab).
Sie sagte oft:
„Ich bin beauftragt, es Ihnen zu sagen, nicht, es Sie glauben zu machen.“
Schluss: Eine Unverweslichkeit, die nicht die ist, für die man sie hält
Am Ende dieses Weges lässt sich sagen, dass Bernadette weder ein Wunder aus Wachs noch ein Objekt bloßer Gutgläubigkeit ist. Ihr Körper, zugleich bewahrt und bearbeitet, spiegelt eine komplexe Geschichte wider, in der sich
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natürliche Phänomene,
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traditionelle religiöse Praktiken,
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ästhetische Empfindungen des 20. Jahrhunderts
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und das legitime Bedürfnis, die Würde der Heiligen zu wahren,
miteinander verbinden. Weit davon entfernt, die Gestalt Bernadettes zu schmälern, bringt uns diese Wirklichkeit ihr näher. Sie ist keine erstarrte Figur, sondern eine reale Frau, die gelitten, geliebt, gebetet und Zeugnis abgelegt hat. Ihr Körper, selbst „nicht ganz unverweslich“, bezeugt ein Leben, das bis zum Äußersten hingegeben wurde, und ein lebendiges Gedächtnis, das Gläubige wie Nichtgläubige weiterhin inspiriert.
Heilige Bernadette bleibt, aus der Tiefe ihrer Kristallschrein heraus, eine sanfte, stille und beharrliche Gegenwart: die einer Seele, die zu Licht geworden ist, und einer Armut, die in Glanz verwandelt wurde.
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We knelt before the remains of St. Bernadette. The crystal enclosure that held her body was less than two feet from the pew. One could have touched it. Personally, I felt honored to be so close. On the other hand, I felt as if I was encroaching. The frailty was palpable but so was the peaceful repose. May she rest in peace. Amen
Is the body still intact to this day? Also, does this mean that her face and hands are made of wax and completely decomposed, so they put wax on them? What has remained intact in her body from the day of her death until now and has not been tampered with? Are his internal organs, including the heart and brain, fully present? Does the miracle water well still exist and still produce water?